„Der Diabetes-Manager“
FAZ
Frau Vorwurf
2. Juni 2005 Kolumne
Abschied vom Streichelzoo
Immer noch sehe ich diesen vorwurfsvollen Blick vor mir, diesen Betroffenen-Blick, den sonst so gerne die Politikerin Claudia Roth aufsetzt, diesen Blick, der sagt, „schämt Ihr Euch nicht für das, was Ihr mir antut“. Angetan hatte ich der Mittvierzigerin, die kürzlich in einem Vortrag von mir war, etwas ganz Unerhörtes: Gleich zu Beginn hatte ich gesagt: „Lifestyle-Diabetes ist ohne Medikamente heilbar – und zwar für einen Großteil der unter 60jährigen“.
„Das glaube ich nicht“, fauchte sie. Ich wußte, das würde schwierig heute abend, setzte mir aber dennoch ein Minimalziel: Wenigstens einmal wollte ich die Frau, die seit wenigen Monaten wußte, daß sie den Typ-2, also den Lifestyle-Diabetes hat, lachen sehen. Leicht machte sie mir dieses Vorhaben nicht. Gleich zu Beginn, als ich über die motivierende Funktion der regelmäßigen Blutzuckermessung (der erste Baustein meiner Methode aus Messen, Essen, Laufen) sprach, giftete sie: „Aber die Meßergebnisse setzen Sie ja einem Druck aus“. „Natürlich“, sagte ich“, „das ist ja der Sinn, die Werte als Ansporn für eigene Aktivitäten zu nehmen, anders zu essen, sich mehr bewegen“ – was funktioniert, wie mir über 100 Leserinnen und Leser bestätigt haben. „Ich will nichts wissen“, meinte sie nur, die schräggestellten Beine noch enger aneinaderpressend.
Dann die Überraschung: Ausgerechnet als ich erzählte, wie ich meine Verwandtschaft durch einen Trick zum Essen von zuckersenkenden Wildkräutern gebracht hatte, indem ich die Brombeerblätter als feingehackten Schnittlauch deklarierte, da lachte sie lauthals auf. Gewonnen? Nur halb, spätestens beim Bewegen, meinem dritten Baustein, war sie wieder auf dem Rückzug, schob plötzlich ihren Arzt vor: „Der sagt, ich muß immer Tabletten nehmen, obwohl mir davon schlecht wird“. Ich erklärte, wie Bewegung das eigene Insulin besser wirken läßt, sodaß sich die Medikamentendosis vermindern läßt, sie zuckte die Schultern. Ganz anders die über 70jährigen Zuhörer, sie fragten mir Löcher in den Bauch, wie sie das gelenkschonende Aqua-Joggen lernen können, welche Vorteile Nordic Walking bringt.
Aber den finalen Trumpf sparte sich Frau Vorwurf bis zum Schluß auf, wo ich noch einmal sagte, der Lifestyle-Diabetes ist keine Krankheit, sondern eine Chance: „Ich mache was ganz anderes, ich fahre erst einmal in Kur“. Nein, natürlich in keine Diabetes-Klinik, einfach so, gut gehen lassen, bloß nicht anstrengen. Wahrscheinlich wird sie die Ärzte dort vorwurfsvoll anschauen, weil sie ihr keine Anti-Diabetes-Massage verschreiben. Wahrscheinlich wird sie noch lange Zeit alle Menschen vorwurfsvoll anschauen, die ihr sagen, daß es für sie ein leichtes ist, die paar überflüssigen Pfunde loszuwerden, sich bewußter zu ernähren, Bewegung locker in den Alltag einzubauen, um das Leben wieder diabetesfrei zu genießen.
„Selbst handeln, selbst heilen“, sagte ich zum Abschluß meines Vortrags. „Mit mir nicht“, signalisierten ihre Augen, „ich bleibe in meinem Streichelzoo, fühle mich wohl als Patientin, will nicht aktiv werden“. Womöglich wird sie in dieser Haltung noch unterstützt durch Ärzte, die sich scheuen, die notwendige eigene Aktivität einzufordern, die Medikamente nicht nur als Ultima Ratio einsetzen. Ihre Haltung wird sich langfristig nicht durchsetzen lassen. Bei bald zehn Millionen Lifestyle-Diabetikern in Deutschland müssen die Tore des Streichelzoos weit geöffnet werden, muß den Betroffenen (die keine Patienten sind!) die freie Luft des souveränen eigenen Willens um die Nase wehen.
Zu optimistisch? Zum Abschluß wünschte sie mir Glück für meinen Weg. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß es irgendwann auch ihr Weg wird. Und ich habe die Hoffnung, daß sie den Weg nicht nur aus ökonomischer Notwendigkeit gehen wird, sondern als Folge eines persönlichen Hineinhorchens in den Körper, der ihr ein Signal gegeben hat; ein Signal, das richtig gedeutet, Freude und Aufbruch vermittelt.
Hans Lauber, 2. Juni 2005
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